Gedankenspiel

Folgende Gedanken, geschrieben von einer Bekannten, möchte ich hier vorstellen - selbstverständlich mit ihrem Einverständnis. Danke dass sie diese mit uns teilt.

 

Ja, wer ist er denn eigentlich,

der Hund? Welcher? Der, der es sich gerade in meinem Bett gemütlich gemacht hat? Mit dem Kopf auf dem Kopfkissen, so, wie es sich gehört? Ja, genau der. Und alle anderen auch. Jeder Hund. Wer ist ein Hund? Was ist ein Hund?

Ich habe etliche Bücher über Hunde gelesen und einiges gelernt:

Der Hund stammt vom Wolf ab. Er ist ein Raubtier. Gehört der Familie der Caniden an, ist ein Fleischfresser. Dass er ein Raubtier ist, wird unter anderem an seinem Gebiss festgemacht. Er hat ein Raubtiergebiss, also ist er ein Raubtier. Dass er Fleischfresser ist, kann man an seinem Verdauungssystem erkennen. Dass er der Familie der Caniden angehört, kann man nicht sehen, es sei denn, man hat gelernt, dass diese zu den Hundeartigen gehören. Zu den Caniden gehören auch Wölfe, Füchse, Schakale, Kojoten und einige andere. Genau genommen ist er ein Canis lupus familiaris. Unser Hund, der Haushund.

Aber nicht nur das. Obendrein ist er ein sozial lebendes Raubtier. Theoretisch, wenn man ihn lässt, und von Natur aus lebt er in Rudeln, oder, je nachdem, wen man fragt, in Familienverbänden. In einer fest gefügten sozialen Ordnung. Deshalb hat er sehr, sehr ausgefeilte Kommunikationsformen entwickelt. Er, das Raubtier, das soziale Raubtier, der Hund. Hunde kommunizieren via Körpersprache - habe ich gelernt. Sie sind innerhalb der Familie harmoniebedürftig und wollen gerne ihre Ruhe haben. Außerdem habe ich gelernt, dass sie gerne spielen, dass sie sich schnell langweilen, wenn man sie nicht ständig beschäftigt, dass sie gern dominant sind und am liebsten die Weltherrschaft an sich reißen würden. 

Dann kamen neuen Hypothesen auf. Warfen die Theorien von der Weltherrschaft über den Haufen (zum Glück, wie anstrengend ist DAS denn, wenn man ständig um die Weltherrschaft kämpfen muss!), die Menschen bemühten sich, den Hund noch besser zu beobachten, noch besser zu verstehen. Sie machten wissenschaftliche Studien. Und schreiben Bücher. Jeder aus einem anderen Blickwinkel.

Es wurden Theorien entwickelt, wie man Hunde am besten erzieht, wie man sie gehorsam macht. Wie sie sozialisiert und an Reize gewöhnt werden müssen, um zu tauglichen Familienmitgliedern heranzuwachsen. Man kann sie konditionieren, positiv, negativ. Mit dem Clicker, mit Leckerchen, mit Spiel motivieren das zu tun, was der Mensch sich wünscht.

Ja, wer ist er denn eigentlich, dieser Hund? Ein Raubtier, ein sozial lebendes Familienwesen, ein gehorsamer Diener des Menschen? Ein Fleischfresser, ein Wesen mit ungeheurem Aggressionspotential? Ist er gar jemand, vor dem man sich fürchten sollte?

Hier tut sich mir die Frage auf, warum der Hund überhaupt mit dem Menschen zusammenlebt. Oder umgekehrt. Wenn das doch oft so schwierig scheint mit den Hunden, wenn sie so viele Probleme machen. Machen sie Probleme? HABEN sie Probleme? Und woher kommen die auf einmal?

 

Was ist ein Hund?

Ein Helfer bei der Jagd, ein Wächter über Haus und Hof, ein Hüter von Schafherden, ein Spielzeug für Kinder, ein Therapeut für Menschen, die nicht mehr mit Menschen können? Ansprechpartner in allen Lebenslagen? Ersatz für menschliche Freunde? Alleinunterhalter? Modepüppchen? Kampfhund? Raubtier? .......

Außer den Dingen, die die Wissenschaft meint, über den Hund herausgefunden zu haben, ist der Hund noch eine ganze Menge mehr. Er nimmt mehr oder weniger artig die Rolle ein, die wir ihm gerade zugedacht haben. Und wenn dann etwas schief geht, ja, dann ist der Hund ....ja, wer ist er denn eigentlich, der Hund?

Wer ist MEIN Hund, wenn ich mit ihm auf dem Deich stehe und er sitzt und will nicht dahin, wo ich hin will? Keiner konnte mir sagen, WER er ist. Aber eine Menge Menschen haben ihren Senf dazu gegeben, WAS er ist: er ist dominant, er ist ungezogen. Oder auch ängstlich, auf jeden Fall widersetzlich. Er gehorcht nicht (das stimmt, aber das tue ich auch nicht), er ist schlecht sozialisiert und nicht ausreichend an Umweltreize gewöhnt. Außerdem ist er per se gefährlich, da in ihm Herdenschutzhundeblut fließt. Also doch ein Monster? Aber warum in aller Welt mache ich mir die Mühe, mit einem Monster zusammen zu leben? Ich verstehe mich selber nicht. Und den Hund? Welchen? Meinen? Irgendeinen?

Es muss doch einen Grund geben, warum die Menschheit sich den Hund erkoren hat, sie zu begleiten. Oder andersherum, der Hund sich den Menschen erkoren hat, ihn zu begleiten? Er ist der älteste tierische Begleiter des Menschen, wenn wir nun wieder auf die Wissenschaft zurückgreifen. Er wurde vom Menschen domestiziert, oder er hat sich dem Menschen freiwillig angeschlossen und sich selber domestiziert, oder aber die Entwicklung von Mensch und Hund lief parallel und gemeinsam und einer hätte ohne den anderen nicht werden können, was er heute ist. Das ist schon mal ein Ansatz.

Ich lese Bücher über Hunde und ihr Verhalten, ich besuche Kurse, um ihre Sprache zu lernen. Kann man so eine Sprache lernen? Wie lernt der Hund MEINE, wo er doch nicht lesen kann (die Kurse besucht er zwangsweise mit, ich konnte ihn nicht fragen, ob er mit möchte, dazu reichten meine körpersprachlichen Fähigkeiten nicht aus). Wieso meine ich, meinen Hund verstehen zu können, wenn ich ein paar Kurse besucht und ein paar Bücher über Hundeverhalten gelesen habe? Ich habe dann sozusagen ein Wörterbuch studiert. Aber spreche ich deshalb die Sprache des Hundes? Versteht der Hund mich? Oder leben wir in einem permanenten Missverständnis? So schlimm kann es nicht sein. Denn ich liebe meinen Hund und er liebt mich.

Tut er das? Tue ich das? Woher weiß jemand, ob ihn sein Hund liebt? Die Wissenschaft macht das an Schaltkreisen im Gehirn und an Hormonausschüttungen fest, ist sich aber nicht sicher, ob Hunde lieben können. Aber Gefühle haben sie. Wahrscheinlich.

 

Es gibt Spiegelneuronen in unseren Gehirnen, die offenbar auch artübergreifend funktionieren - zumindest partiell. Es gibt das Stichwort Empathie, das sich Einfühlen können in ein Gegenüber, auch wenn das Gegenüber kein Mensch, sondern ein ganz anderes Geschöpf ist. Es gibt morphische Felder und morphogenetische Feldern, in denen wir leben, es gibt Du-Evidenz, es gibt eine ganze Menge hoch interessanter Arbeitshypothesen und Erklärungsansätze dafür, wie und warum ein Zusammenleben zwischen Mensch und Hund funktionieren kann, wie Verständigung und Austausch funktionieren. Dazu Arbeitsmodelle, wie man den Hund erziehen, behandeln, sozialisieren, füttern, trainieren, beschäftigen usw. soll, damit er ein angenehmer Zeitgenosse wird und bleibt. Angenehm ist in diesem Fall, was dem Menschen angenehm ist.

Immerhin gibt es Bestrebungen, auch dem Hund das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Aber gehorchen muss er. Und WEHE er klaut!

Durch all diese Brillen der Wissenschaft, durch theoretische Blickwinkel und Ideen darüber, wer er ist, der Hund, kann ich nun MEINEN Hund betrachten. Und dann stellt sich mir die Frage:

 

Ja, wer IST er denn nun eigentlich, der Hund?

Wer ist denn MEIN Hund? Dieses unbekannte Wesen, das da so dominant schlafend und widersetzlich und ungehorsam in meinem Bett liegt, mit dem Kopf auf dem Kissen, wie sich das gehört, dieses rätselhafte Wesen, das im Schlaf  ein wenig knurrt und wufft und mit den Pfoten zuckt. Wenn ich nachschaue, was ist, öffnet er aus dem Tiefschlaf heraus die Augen, schaut mich an, wedelt freundlich dreimal mit dem letzten Viertel seiner langen, gekringelten Rute: alles gut Frauchen, kannst wieder schreiben gehen ... schließt die Augen, beginnt zu schnarchen. 

Ich habe versucht, über Wissenschaft, über Bücher, Ratgeber, Filme, etwas über Hunde zu lernen, zu verstehen, wer sie sind. Also habe ich eine Menge Ideen im Kopf, wer Hunde sind oder sein könnten. Und doch trifft keine dieser Ideen wirklich diesen einmaligen Hund, der es sich in meinem Leben und in meinem Bett bequem gemacht hat. So bequem, wie das nun irgend geht, wenn man mit mir zusammenlebt. Und wir versuchen gegenseitig, uns zu ergründen. Tag für Tag. Ohne Bücher. Denn der Herr Hund kann nicht lesen, und ich habe nach dem 120sten Buch aufgegeben, etwas aus Büchern über MEINEN Hund lernen zu wollen. Er passt in kein allgemeines Buch über Hunde. Er braucht sein eigenes Buch.

Und das deshalb, weil er nicht JEDER Hund ist, sondern MEIN Hund. Wäre er der Hund eines anderen Menschen, würde das Buch völlig anders aussehen. Für ein Buch über Hunde bedarf es zweier Wesen. Es ist die Geschichte eines "Dazwischen", die Geschichte von etwas, was zwischen uns lebt, dem Herrn Hund und mir. Was uns beide zu dem werden lässt, was wir sind. Er ist mein Lehrer und Wegweiser, genauso gut, wie ich sein Lehrer und Wegweiser bin. Und so lehren und wegweisen wir uns den Deich entlang, mal schneller, mal langsamer, und manchmal klappts gar nicht, dann bleiben wir einfach zuhause und nehmen einen kleinen Imbiss.... So wie heute.